Das Gesundheitssystem in Deutschland hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt und wird es aller Voraussicht nach auch in Zukunft tun. Es lassen sich u.a. folgende Entwicklungen erkennen:
1. Zunahme an älteren pflegebedürftigen Menschen: Ende 2015 waren 2,86 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Derzeit liegt die Zahl bei 4,1 Millionen.
2. Anstieg bei chronischen Krankheiten und Multimorbidität: Wesentlich bedingt durch die Alterung der Bevölkerung steigt die Zahl von Menschen mit chronischen Krankheiten insbesondere mit neurodegenerativen Erkrankungen.
3. Ambulante vor stationärer Versorgung: Die ambulante Versorgung von pflegebedürftigen Menschen nimmt weiter zu: Der Anteil häuslich versorgter Menschen beträgt derzeit rund 80%.
4. Stärkung von Gesundheitsförderung und -prävention: Durch das Präventionsgesetz werden die Ausgaben der Krankenkassen für Primärprävention und Gesundheitsförderung stark anwachsen.
5. Ausbau der Palliativversorgung: 2015 ist das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland in Kraft getreten. U.a. ist damit die palliative Versorgung in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) integriert.
6. Wachsende Bedeutung integrierter Versorgungssysteme: Um die Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung zu verbessern, wird zunehmend auf effiziente und qualitativ hochwertige Versorgungsketten gesetzt. Hierfür bedarf es eines professionellen Case Managements.
Rolle der Pflegenden
Die Pflege wird demnach einen Zuwachs an Aufgaben und Zuständigkeiten erfahren und die Anforderungen werden zukünftig komplexer. Beispielhaft lassen sich hier als folgende neue Aufgabenfelder und Anforderungen nennen: Gestaltung einer effektiven interprofessionellen Zusammenarbeit, Beratung von Patienten_innen und Angehörigen, palliative Versorgung, differenzierte Diagnose von Pflege- und Gesundheitsstatus sowie Planung, Durchführung und Evaluation von Pflegeleistungen und auch von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention.
Mit diesen Veränderungen ändern sich auch die Aufgaben und Anforderungen an die Pflegenden. Um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden, muss das Berufsbild der Pflegenden neu gedacht werden. Als eine Möglichkeit dabei dient das Rollenmodel der „Canadian Medical Education Directives for Specialists“ (CanMEDS). Dieses Rollenmodel wurde ursprünglich als kompetenzorientierter Lernzielkatalog entwickelt und umfasst heute auch die grundständige Ausbildung in Gesundheitsfachberufen. In diesem Rollenmodel wird der Kompetenzbegriff als Prozess verstanden. Dabei werden Fähigkeiten grundlegend so definiert, dass Erkenntnisse des wirksamen Handelns in die Ausbildung integriert werden. In der Abbildung 1 ist das Organisationsprinzip erkennbar, das die komplexen Kompetenzen näher beschreibt. Obwohl für jede Rolle individuelle Beschreibungen gegeben werden, sind sie untrennbar miteinander verbunden, wobei die Rolle des Gesundheitsdienstleisters im Mittelpunkt der beruflichen Praxis steht. Die anderen sechs CanMEDS-Rollen unterstützen die zentrale Rolle des Gesundheitsdienstleisters.
Neue Aufgaben
Diese größere Autonomie verlangt aber auch eine entsprechende Professionalität. Auf Basis einer wissenschaftlich begründeten Expertise müssen richtige Pflegediagnosen gestellt und wirksame Interventionen geplant, durchgeführt und evaluiert werden. Idealerweise findet dies im Rahmen der Heilkundeübertragung statt. Die bisherige freiwillige Regelung nach § 63 Abs. 3 zur freiwilligen Erprobung der Heilkundeübertragung auf Pflegende wurde um den § 64 d SGB V ergänzt. Demnach müssen alle Bundesländer mindestens ein Modellprojekt zur Erprobung durchführen. Dafür wurden im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) durch eine Fachkommission standardisierte Module entwickelt. Diese sollen den Erwerb der erweiterten heilkundlichen Kompetenzen nach § 14 Pflegeberufegesetz ermöglichen. Die Module gliedern sich in ein Basismodul und acht Wahlmodule und sind auf der Internetseite des Bundesinstitutes Berufsbildung veröffentlicht (https://www.bibb.de/de/139520.php). Thematisch abgedeckt werden Kompetenzen in den Bereichen: Diabetes, chronische Wunden, Demenz, Hypertonus, Schmerzen, Ernährungs- und Ausscheidungsprobleme, Tracheostoma sowie chronische Beeinträchtigungen der Atmung.
Eine Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten in diesen Bereichen ist zu fordern. Oftmals werden diese Tätigkeiten bereits schon übernommen und würden somit nur rechtlich legitimiert. Auf der anderen Seite werden akademische Pflegekräfte genau dafür ausgebildet. Sie erhalten im Rahmen des Studiums die notwendigen methodischen Kompetenzen, um ihr Handeln evidenzbasiert auszurichten.
Fazit
Der Prozess der Akademisierung des Pflegeberufes hat die ersten Hürden genommen. Der Weg wird lang sein, aber die Ausrichtung und die ersten rechtlichen Rahmenbedingungen ebnen den Weg. Akademisierte Pflegende ergänzen die Versorgungslandschaft um den notwendigen Skills-Mix sicherzustellen. Die eingangs gestellte Frage, ob die Akademisierung notwendig ist, kann nur mit „Ja“ beantwortet werden. Auf lange Sicht wird es zu einer Neugestaltung des gesamten Pflegeberufes kommen. Die parallelen beruflichen und akademischen Ausbildungen zur Pflegefachkraft werden von einer rein akademischen Ausbildung abgelöst werden. Die berufliche Ausbildung wird umgestaltet werden, da neue Aufgaben im Pflegeberuf nicht mehr ohne Weiteres übernommen werden können.
Prof. Dr. Johannes Gräske
Studiengangsleiter Bachelorstudiengang Pflege
Alice Salomon Hochschule Berlin
Alice-Salomon-Platz 5
12627 Berlin
graeske@ash-berlin.eu