Ihre Einrichtung erhielt im November 2018 das Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“. Erzählen Sie uns darüber. Was ist das Besondere an Ihrer Einrichtung?
Herr Schäfer (Hr. S.): „Das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg befindet sich im Kiez Schöneberg, der Europas größte queere Community und Europas größtes queeres Straßenfest beheimatet. Von daher haben wir auch eine besondere Affinität zur queeren Community hier in Berlin. Der Berliner Senat war schon sehr früh daran interessiert, in vollstationären Pflegeeinrichtungen Pflegepersonal für queere Lebensweisen und für LSBTI* Menschen, die in die Pflegebedürftigkeit kommen, zu sensibilisieren. So haben wir schon im Jahre 2013/14 begonnen, an Workshops zur Sensibilisierung von Mitarbeitenden teilzunehmen. Die Workshops wurden über die Senatsverwaltung finanziert und über die Schwulenberatung Berlin angeboten und durchgeführt. Durch diese noch sehr vorsichtige und überschaubare Öffnung kamen wir dann zu dem Schritt, dass wir uns mit der Baptistengemeinde Schöneberg auf dem lesbisch-schwulen Straßenfest in Schöneberg mit einem Informationsstand zusammengetan haben. Durch die Workshops und die Präsenz auf dem Straßenfest kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit der Schwulenberatung in Berlin. 2017 wurde die Schwulenberatung Berlin dann vom Bundesfamilienministerium beauftragt, ein einheitliches und bundesweitgeltendes Qualitätssiegel für eine LSBTI*-sensible Pflege in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege zu entwickeln. Durch die gewachsene Zusammenarbeit mit der Schwulenberatung und dem Lebensort Vielfalt, einer WG für schwule Senioren, kam es dazu, dass wir als bundesweite Piloteinrichtung zur praktischen Umsetzung angefragt wurden.
Das Besondere ist, dass wir uns schon sehr lange mit dem Thema auseinandersetzen und Mitarbeitende über Jahre schon eine gewisse Sensibilisierung erfahren haben. Durch die Zertifizierung hat diese Grundhaltung dann noch mal eine tiefere Struktur bekommen. Dieses Jahr haben wir inzwischen die Rezertifizierung erfolgreich abgeschlossen. Das neue Qualitätssiegel gilt jetzt bis 2025. So bleiben kontinuierlich mit unseren Konzepten (Einrichtungs-, Einarbeitungs-, Fortbildungskonzepte) am Thema dran. Es ist also ein roter Faden, der sich durch die Einrichtung zieht, ohne den Anspruch zu haben, dass wir eine rein schwul-lesbische Pflegeeinrichtung sind. Wir wollen nicht den Anschein erwecken, dass hier selektiert wird, sondern wir sind sensibilisiert, wenn queere Bewohner*innen zu uns kommen. Das haben wir geschafft, indem wir uns mit dem Thema auseinandergesetzt und dann entsprechende Verfahrensanweisungen bzw. Prozesse für uns definiert haben. Diese Konzepte beinhalten explizit die Aspekte sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität. Wir achten darauf, dass sie sichtbar sind, ohne sie als alleinige Kriterien in den Vordergrund zu stellen.“
Wie häufig gibt es Pflegeeinrichtungen mit dieser Öffnung in Berlin?
Hr. S.: „Da sind wir im vollstationären Bereich noch immer einzigartig. Das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt gibt es nochmal in Düsseldorf in einer städtischen Einrichtung. In München und in Frankfurt am Main gibt es noch Einrichtungen mit einem eigenen Konzept. Auch die AWO hat 2019 ein Modellprojekt gestartet, an dem zwei ambulante und vier vollstationäre Altenhilfeeinrichtungen teilgenommen haben. Dann gibt es auch einige ambulante Pflegedienste in Berlin, die dieses Qualitätssiegel bekommen haben, aber in vollstationären Einrichtungen ist es noch sehr überschaubar.“
Haben Sie neben dem Konzept auch tatsächlich eine Vielfalt in der Bewohnerschaft?
Hr. S.: „Ja. Es variiert ein bisschen, aber man kann sagen, dass sich der Querschnitt der Gesellschaft auch bei uns widerspiegelt. Man geht so von 10 - 15 % Anteil an queeren Menschen in der Bevölkerung aus und so ist es auch bei uns.“
Inwiefern gilt das Konzept „Lebensort Vielfalt“ auch für die Mitarbeitenden und Pflegekräfte? Was müssen sie wissen und inwieweit profitieren sie von dem Konzept?
Hr. S.: „Das ist das Schöne an diesem Qualitätssiegel, dass es nicht nur die Dimension der Bewohnenden, sondern auch die der Mitarbeitenden mitberücksichtigt. Das sind 120 Kriterien, die man dafür erfüllen muss und es geht in die Dimensionen Unternehmenspolitik und Kommunikation, Personalmanagement, Transparenz & Sicherheit, Pflege & Gesundheit und die Wohn- und Lebenswelten. Da wird schon deutlich, dass die Mitarbeitenden ihre Berücksichtigung finden und mitgedacht werden. Im Zuge der Zertifizierung haben wir Prozesse für Mitarbeitende im Umgang mit sexueller Belästigung oder mit rassistischen Äußerungen durch Mitarbeitende oder durch Bewohnende beschrieben und definiert. Gleiches gilt auch für Bewohnende, wenn Mitarbeitende rassistische Äußerungen oder Diskriminierungen unter den Bewohnenden mitbekommen. Das schließt auch z. B. Konzepte ein, wie wir mit gegenderten Umkleiden, umgehen. Wir haben auch einen Verhaltenscodex erarbeitet. Der gilt für alle, sogar unser liefernder Bäcker muss sich daran halten.“
Gilt Ihre Einrichtung als Magnet für Bewerber/-innen?“
Hr. S.: „Ja, direkt nach der Siegelverleihung war der Ansturm sehr groß. Das Ganze ist allerdings durch die Coronapandemie etwas verzerrt. Wir hatten eine hohe Anzahl an Initiativbewerbungen. Das hat sich mit der Pandemie und dem sich daraus zusätzlich zugespitzten Fachkräftemangel reduziert. Was sich aber verstetigt hat, ist, dass sich über 60 % der Bewerber*innen auf das Qualitätssiegel berufen. Es ist nicht nur ein geschützter Bereich für die Bewohnenden, sondern wir haben auch die Mitarbeitenden im Blick. Wir machen deutlich, dass wir eine offene Kultur haben. Häufig haben queere Menschen schlechte Erfahrungen mit ihrem Outing am Arbeitsplatz gemacht und verstecken sich deshalb eher. Das nimmt viel Kraft in Anspruch. Es geht Arbeitsleistung (man spricht von bis zu 30 %) verloren, weil sie überlegen müssen, was sie erzählen können und was nicht. Wenn man sich als Arbeitgeber offen zeigt, führt das zu einer besseren Kommunikation im Team und einem besseres Miteinander. Bei uns hat sich das Arbeitsklima verbessert und der Krankenstand ist niedriger geworden. Das ist zwar etwas verzerrt durch Corona, aber wir liegen immer noch unterm Durchschnitt."
Gibt es regelmäßige Fortbildungen mit Diversity-Bezug?
Hr. S.: „Ja, das ist eine Grundvoraussetzung. Und das ist das Wichtige an dem Qualitätssiegel, dass es nicht nur einmalig ist, sondern alle drei Jahre den Nachweis erbringen muss, dass man weiter am Thema dran ist. Es gibt Pflichtfortbildungen, die das Qualitätssiegel vorschreibt, z. B. zu queeren Lebenswelten, zur Versorgung von Trans- und Inter-Menschen, zum Themenkomplex besondere Versorgungslagen wie bei Aids und HIV sowie auch zum Verständnis über die Geschichte vom gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität, insbesondere über die Pathologisierung, Kriminalisierung und Stigmatisierung queerer Menschen."
Gibt es bei Ihnen auch Diskriminierungserfahrungen? Wie gehen Sie konkret damit um?
Hr. S.: „Hier in der Einrichtung nicht. Ich bekomme häufig Anrufe von Menschen, die in anderen Einrichtungen leben und dort Diskriminierungserfahrungen machen und mich um Rat fragen oder auch anfragen, ob ein Platz bei uns frei ist. Die Hinwendung zur queersensiblen Pflege fassen wir im Unternehmen unterdessen weiter und wollen eine diversitätssensible Pflege ins Auge fassen, also nicht nur den Fokus auf die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität. Und wenn wir das Diversity-Rad mit allen Dimensionen berücksichtigen, zählt dann neben Alter, physische Fähigkeiten, ethnische Zugehörigkeit auch die Hautfarbe mit rein. Wir mussten eben doch feststellen, dass Mitarbeitende Übergriffe erlebt haben, nicht hier in der Einrichtung, aber im Umfeld auf dem Arbeitsweg, vor allem Mitarbeitende aus afrikanischen Herkunftsländern. Darauf hat der Arbeitgeber Einfluss, z. B. im Rahmen der Dienstplangestaltung, Schutzmaßnahmen für den Heimweg (Heimwegtelefone, Organisieren geschützter Transporte, Begleitung oder andere Möglichkeiten). Das ist eine Herausforderung für Unternehmen und eine Dimension, die für uns relativ neu ist."
Muss das Qualitätssiegelregelmäßig „erneuert“ werden?
Hr. S.: „Das Siegel gilt für drei Jahre und muss 2025 wieder erneuert werden.“
Gibt es ein Diversity Management Konzept?
Hr. S.: „Über die Öffnung für eine LSBTI* sensible Pflege in unserer Einrichtung sind wir nun auf dem Weg zu einem solchen Konzept. Das öffentliche Interesse ist sehr groß. Ab Januar übernehme ich eine neue Aufgabe in Form einer Stabsstelle für Diversität und queere Lebensweisen in der Sparte Altenhilfe der Immanuel Albertinen Diakonie, um eine Öffnung aller unserer Einrichtungen der Altenhilfe zu unterstützen und zu begleiten."
Was können andere Pflegeeinrichtungen von Ihnen lernen?
Hr. S.: „Sie sollen Mut haben, sich auf den Weg zu machen. Es ist ganz schlimm, dass viele queere Menschen, Trans- und Inter-Menschen im Besonderen, so schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht haben, so dass sie häufig sehr spät Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Einrichtungen müssen sich ja nicht gleich zertifizieren lassen, sollten aber zumindest die Dimensionen LSBTI* mitdenken und die Mitarbeitenden sensibilisieren, dass es noch etwas anderes gibt als das binäre Denken. Das sollte man nicht totschweigen, sondern den Mut haben zu sagen ‚Das gibt es. Wir reden drüber. Wir bereiten uns darauf vor.‘.“
Ein weiterer Aspekt ist, dass wir auch Ausbildungsstätte sind. Neben unseren eigenen Auszubildenden sind wir auch Einsatzstelle für Schüler*innen anderer Ausbildungsträger. Da merke ich ein sehr großes Interesse. Die Schüler*innen spiegeln uns auch zurück, dass wir sehr herausragen in der Art und Weise, wie wir pflegen, wie wir mit den Bewohner*innen umgehen und auch mit den Mitarbeitenden. Sie vermissen das ein bisschen bei ihren eigenen Ausbildungsträgern, denn oft wird das Thema queersensible Pflege ausgeklammert oder die Dimension, Sexualität im Alter‘ an sich ist sehr schambehaftet und wird nicht thematisiert.
Konkrete Beispiele, die unsere Öffnung greifbar machen, sind zum einen die äußere Sichtbarkeit auf unserer Webseite. In der Einrichtung selbst haben wir Farbakzente, die darauf hinweisen, um queeren Menschen deutlich zu machen, dass wir hier sensibilisiert sind und sie offen sprechen können. Das äußert sich auch in der Gesprächskultur, z. B. beim Aufnahmegespräch stellen wir offene Fragen und denken nicht im binären System, fragen z. B. nicht nach der Ehefrau/Ehemann, sondern nach Lebenspartnerschaften und lassen die Möglichkeit zu antworten offen, damit sie selbst entscheiden können, was sie uns erzählen möchten. Wir machen regelmäßig queere Filmnachmittage/-abende. Das wird angenommen, egal welche sexuelle Orientierung die Bewohnenden haben. Daraus haben sich schon tolle Diskussionen entwickelt, z. B. beim letzten Film „Du sollst nicht lieben“ (ein Film, der sich mit dem jüdischen Glauben und Homosexualität auseinandersetzt). Im Juli waren wir mit acht Bewohnenden mit Rikscha und Rollstühlen beim CSD. In der Einrichtung haben wir auch einen Schrank mit Literatur, Filmen und Magazinen mit queeren Themen angelegt, der auch kontinuierlich erweitert wird. Außerdem sind wir darauf vorbereitet, wenn es zu Bedürfnisäußerungen kommt. Wir stellen dann Rückzugsmöglichkeiten und auf Wunsch Filme oder Printmaterial zur Verfügung. Zudem haben wir Kontakte zu verschiedenen Interessengruppen, z. B. die Schwulenberatung, dem mobilen Salon (ein Besuchsdienst für homosexuelle Männer), mit „Rat und Tat“ (lesbischer Interessensverband), die ebenfalls einen Besuchsdienst haben, mit dem wir zusammenarbeiten. Wenn Bewohnende Gruppen (Gesprächs-, Frühstücksgruppen etc.) bei diesen Verbänden besuchen möchten, organisieren wir die Transporte. Auch wenn eine Bewohnerin äußert, dass sie nicht von einem Mann versorgt werden will, werden nicht per se nur schlechte Erfahrungen, z. B. im Krieg oder Missbrauch assoziiert, sondern bei uns wird auch die Dimension mitgedacht, dass sie vielleicht lesbisch ist und deshalb die Versorgung durch das andere Geschlecht ablehnt. Es kam auch schon vor, dass ein Bewohner einen Fetischwunsch geäußert hat. Das wird dann respektvoll entgegengenommen, darüber sprechen wir im Team und suchen nach Möglichkeiten, wie wir diesem Wunsch nachkommen können. Was wenig erforscht ist, ist die Frage: Wie verändert sich Homosexualität bei Demenz? Wie verändert sich die geschlechtliche Identität in der Demenz? Da sehe ich noch einen großen Handlungsbedarf, nicht nur hier in der Einrichtung, sondern auch schon in der Ausbildung mit den möglichen Versorgungslagen, die sich daraus ergeben können und in der Pflegeforschung Eine Auseinandersetzung und Öffnung zu einer queersensiblen Pflege sollte generell auch in anderen Segmenten des Gesundheitswesen, wie z. B. im Krankenhausbereich stattfinden.
Dieses Interview führte:
Juliane Ghadjar,
Berliner Krankenhausgesellschaft e. V.
Koordinatorin Kampagne #PflegeJetztBerlin