Deutschland verliert den Anschluss in der Pflege
Michael Ewers
Seit vielen Jahren beschreitet Deutschland Sonderwege, wenn es um die Aus- und Weiterbildung, das Aufgaben- und Verantwortungsspektrum sowie die Frage der Regulierung und Selbstorganisation des Heilberufs Pflege geht. Dies zeigen international vergleichende Untersuchungen – wie u. a. die sogenannte PinaL-Studie zur „Pflege in anderen Ländern“, die 2019 an der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführt wurde. Inzwischen wurden die Ergebnisse der Studie durch viele Einzelstudien erweitert und bestätigt.
Demnach erlaubt Deutschland als einziges Land in Europa den Zugang zum Beruf nach nur 10 Jahren Allgemeinbildung – überall sonst sind es 12 Jahre, was bereits eine deutlich bessere Startposition ermöglicht. Während die hochschulische Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen – angefangen mit dem Bachelor, über den Master bis hin zur Promotion – in Europe (und den meisten anderen Ländern der Welt) – inzwischen Standard ist, bewegt sich der Anteil der graduierten Pflegefachpersonen in Deutschland im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Hartnäckig hält sich hier die Vorstellung, dass die bestehende und in Sonderstrukturen erfolgende Berufsausbildung nur ein wenig reformiert werden müsste, um den gestiegenen und weiter steigenden Anforderungen an den Heilberuf Pflege Genüge zu tun. Wie allerdings jemand, der im Rahmen einer vorwiegend praxisorientierten Ausbildung selbst nie eine wissenschaftliche Qualifizierung durchlaufen hat, neueste medizinische, pflege- und bezugswissenschaftliche Erkenntnisse aufgreifen, kritisch bewerten und im klinischen Arbeitsalltag zum Wohl von Patient*innen umsetzen soll, bleibt im Unklaren.
Ebenso hartnäckig hält sich in Deutschland die Vorstellung von der Pflege als Assistenz- und Hilfskraft, weshalb auch eine in anderen Ländern inzwischen vorangetriebene Erweiterung des Aufgaben- und Verantwortungsspektrums ausgeblieben ist. In vielen Ländern Europas und der Welt sind auf Masterniveau qualifizierte klinische Pflegeexpert*innen eigenverantwortlich tätig – entweder für einzelne Aufgabengebiete, wie die onkologische oder pädiatrische Pflege (Clinical Nurse Specialist) oder als Generalisten für die gesundheitliche Primärversorgung (Nurse Practitioner). Aufgrund ihrer Kompetenzen können sie (chronisch) kranke Menschen begleiten, Therapien und Medikamente verordnen oder selbst anspruchsvolle diagnostische und therapeutische Maßnahmen durchführen. Sie gewährleisten eine sichere und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung und arbeiten dabei vertrauensvoll und engagiert mit andere Berufsgruppen zusammen – in Krankenhäusern, Gemeindegesundheitszentren oder auch in der Langzeitversorgung. In Deutschland wird derart autonomen Rollenprofilen mit Skepsis und Widerständen begegnet – insbesondere auch von Seiten etablierter Interessengruppen. Dabei sprechen die vorliegenden Forschungserkenntnisse eine deutliche Sprache – die Bevölkerung profitiert von der erweiterten Pflegepraxis (Advanced Practice) und die Versorgung erfolgt durchweg auf einem hohen qualitativen Niveau.
Problematisch ist, dass hierzulande vorwiegend von Außenstehenden über das Wohl und Wehe des Heilberufs Pflege entschieden wird. Auch diesbezüglich stellt sich die Situation international vorteilhafter dar. In vielen Ländern ist die zentrale Registrierung der Berufsangehörigen Pflicht – daher die englische Bezeichnung „Registered Nurse“. Zudem gibt es starke, mit einem öffentlichen Mandat versehe Einrichtungen der beruflichen Selbst- und Interessenorganisation – etwa in Form von Pflegekammern. Der englische „Nursing and Midwifery Council“ ist ein prominentes Beispiel dafür. Diese von den Berufsangehörigen getragenen Organisationen definieren nicht nur ethische Leitlinien, Ausbildungs- und Praxisstandards für die Pflege. Sie überprüfen auch die Einhaltung von Fortbildungspflichten und sind – bei Vernachlässigung dieser Pflichten oder anderen Verstößen gegen die Berufsordnung – auch zum Entzug der Berufszulassung berechtigt. Auf diese Weise sind sie ein Garant für die Patientensicherheit – ein für die internationale Pflege zentrales Anliegen. Tatsächlich sehen Pflegefachpersonen in vielen Ländern ihre Kernaufgabe darin, Menschen eine sichere und auf ihren Bedarf abgestimmte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen – dabei auch soziale Dimensionen und den Alltag dieser Menschen berücksichtigend. Die Entlastung anderer Berufsgruppen oder Assistenztätigkeiten für diese, sehen sie hingegen nicht als ihren Auftrag an.
Wie sich an diesen wenigen Hinweisen andeutet, hat Deutschland in der Pflege andere Wege beschritten als die meisten Länder um uns herum. Die fatalen Folgen dieser Entscheidung werden immer offensichtlicher – darunter an erster Stelle die mangelnde Attraktivität des Heilberufs Pflege und ein in Folge eklatanter Mangel an Nachwuchs. Aber auch die negativen Folgen für die Menschen, die in unseren Gesundheitseinrichtungen nach Hilfe und Unterstützung suchen, werden seit Jahren in wissenschaftlichen Studien beschrieben. Die Vernachlässigung von Beratung und Anleitung, die mangelnde Berücksichtigung des Alltags und des tatsächlichen Unterstützungsbedarfs von Hilfesuchenden sind offensichtlich – stattdessen bestimmen Über-, Unter- und Fehlversorgung oder auch zahlreiche unnötige Eingriffe und Medikalisierung den Alltag in unserem Gesundheitssystem.
Eine an den Vorbildern anderer Länder orientierte Modernisierung und Neuausrichtung des Heilberufs Pflege wird nicht alle diese Probleme lösen können. Sie wird aber womöglich dazu beitragen, dass Deutschland wieder Anschluss findet an die Entwicklungen des Heilberufs Pflege in der Welt (siehe dazu auch den State of the world’s nursing 2020 Bericht der Weltgesundheitsorganisation). Um dieses Ziel zu erreichen, auch das zeigen die Erfahrungen anderer Länder, werden Investitionen in die Aus- und Weiterbildung, die Gestaltung von Arbeitsbedingungen und auch die Selbstorganisation des Heilberufs Pflege notwendig sein. Diese Investitionen dürften sich aber lohnen, denn mehr denn je benötigt auch Deutschland Pflegefachpersonen die ihre Möglichkeiten zur Förderung, zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Gesundheit der Bevölkerung in vollem Umfang ausschöpfen und so zur Beantwortung immer drängender gesundheitlicher und sozialer Herausforderungen beitragen können.
Berlin, 15.08.2023
Univ.-Prof. Dr. Michael Ewers MPH
Charité – Universtätsmedizin Berlin
Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
CVK – Augustenburger Platz 1
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m.ewers@charite.de